2) Widerlegen Sie mich doch!

Ich rege mich des Öfteren über Wissenschaftsleugner, Verschwörungstheoretiker und Konsorten auf, nach meiner Wahrnehmung immer häufiger. Das mag daran liegen, dass man derartigen Zeitgenossen immer schwerer aus dem Weg gehen kann. Die ganze Regierung einer selbsternannten großartigsten Nation der Erde erweckt zuweilen den Eindruck, nur noch aus solchen Personen zu bestehen, denen keine These zu schräg sein könnte, um sie nicht doch zu glauben - Hauptsache sie widerspricht der so genannten Mainstream-Wissenschaft.


Nun könnte ich mich hier lang darüber auslassen, wie wissenschaftliches Arbeiten funktioniert, was ich aber doch unterlassen möchte. Einerseits habe ich das, zumindest in Bezug auf "Peer Reviews", in meinem Buch "Wozu braucht man eigentlich Mathematik?" bereits getan. Andererseits kann man offenbar nicht oft genug über das Thema reden, so dass ich es an anderer Stelle tatsächlich doch (noch) mal tun sollte - auch wenn ich das Gefühl habe, dass ja doch keiner auf mich hört. Seufz!


Nun redet man und frau ja gerne von der evidenzbasierten Wissenschaft, von "Evidenz" wie "Beweis". Jedoch hat die wissenschaftsleugnende Szene eine eher andere Herangehensweise an die vermeintliche Wahrheitsfindung. Ein Teil des Spektrums an, sagen wir mal, fragwürdigen Argumentationstechniken bedient sich folgender Methode: Man stellt eine möglichst absurde Behauptung auf, die dem eigenen Zweck dient, aber nur schwer auf die Schnelle widerlegbar ist, auch wenn sie aller Wahrscheinlichkeit nach falsch ist. Das allein reicht noch nicht aus, zu dem Kochrezept für Schwurbler gehört noch ein wichtiges Finish: Vor einiger Zeit verzappte ich mich mal wieder und landete bei einer dieser Polit-Talkshows. Eine prominente Person einer deutschen Partei fern der Mitte präsentierte eine entsprechende These. Ich weiß nicht mehr, um was es ging: ob Geimpften ein dritter Arm wächst, die geheime Weltregierung uns alle durch Außerirdische ersetzen will oder sonstwas - jedenfalls verursachte die Behauptung bei dem sonst nicht um Worte verlegenen Gastgeber der Sendung einige Sekunden der Sprachlosigkeit. Triumphierend setzte die betreffende Politgröße zum finalen Dolchstoß an, der in etwa lautete wie: "Sehen Sie: Sie können es nicht widerlegen, also ist es wahr."


Lassen Sie uns diese vorgegaukelte Conclusio einmal gründlich unter die Lupe nehmen. Genauer gesagt müssen wir über zwei Teile dieses Rezepts aus dem Wunderland der alternativen Fakten reden. Teil 1 ist das Aufstellen der absurden, aber schwer widerlegbaren Behauptung. Nach dem italienischen Informatiker Alberto Brandolini ist ein Gesetz benannt, das dieser 2013 wie folgt (übersetzt) formuliert hat: "Das Widerlegen von Schwachsinn erfordert eine Größenordnung mehr Energie als dessen Produktion", wie man unter https://de.wikipedia.org/wiki/Brandolinis_Gesetz nachlesen kann. Das Ungleichgewicht zwischen Formulierung und Widerlegung von Schwurbeleien begründet auch den Begriff des Bullshit-Asymmetrie-Prinzips. Eine geradezu prophetische Einsicht in die Welt der Fake News scheint Brandolini also besessen zu haben, als er diese Worte von sich gab.


Doch das Aufstellen einer solchen Behauptung, welche Brandolinis Gesetz folgt, würde wirkungslos verpuffen, wenn nicht danach die Aufforderung käme, man solle die These doch mal widerlegen, weil sie ja sonst wahr wäre. Ich bin geneigt, diesem neuen alternativen Ansatz der Wahrheitsfindung nachzugeben. Er ist einfach zu verlockend, weil er ungeahnte Möglichkeiten bietet. Ich meine: Als eingefleischter Star-Trek-Fan bin ich es einfach leid, dass ich mir von fantasielosen Zeitgenossen immer wieder anhören muss, dass das alles ja nicht real wäre. Bisher konterte ich immer: "Sind Rosamunde-Pilcher-Filme etwa real?" Aber jetzt werfe ich meinem Gegenüber lächelnd voller Überlegenheit die Worte entgegen: "Im 23. Jahrhundert werden wir im Weltraum reisen und auf Außerirdische namens Vulkanier, Klingonen und Romulaner treffen. Kannst Du das widerlegen? Nein? Dann ist es wahr!" Hurra! Wie einfach doch alles wird, wenn man nur an die Gültigkeit alles (vorübergehend) nicht Widerlegbaren glaubt.


Und das ist nur der Anfang. Unter uns leben unsichtbare masselose Wesen. Nur wer im Abschlusszeugnis eine Eins in Mathe hat, kommt später mal in den Himmel. Eichhörnchen sind eigentlich hundertmal intelligenter als Menschen, sie verheimlichen es nur aufgrund eines Jahrtausende alten Ehrenkodex. Widerlegen Sie mich doch, na los! Oder setzen Sie die Liste fort, es macht Spaß!


Ich glaube, wenn ich wieder auf jemanden treffe, der mit wirren Argumenten meint, Erkenntnissen widersprechen zu können, die eine ganze Schar von Expertinnen und Experten nach intensiver Forschungsarbeit gemeinsam gewonnen hat, dann rufe ich ihm entgegen: "Ein Teil Ihrer DNA ist außerirdisch!" Wenn der Satz seine Wirkung ausgebreitet hat, dann ergänze ich: "Können Sie es widerlegen? Nein? Dann stimmt es wohl." Das Besondere daran ist: Wir haben nicht nur keine Ahnung davon, wie Alien-DNA aussieht, um sie identifizieren oder ausschließen zu können, sondern nach dem Stand der Wissenschaft ist es zudem möglich, dass das irdische Leben ursprünglich aus dem All stammt (beispielsweise durch einen Meteoriteneinschlag). Anders ausgedrückt: Mein Satz könnte durchaus wahr sein! Wir sind alle hier vielleicht nur eingewandert. Denken Sie darüber mal nach!

P.S.: Das Internet vergisst ja bekanntlich nichts. Deswegen rufe ich den Vulkaniern entgegen, die dies hoffentlich lesen, nachdem sie am 5. April 2063 den ersten Kontakt zur Menschheit aufgenommen haben werden: Ich habe immer an euch geglaubt! 
In diesem Sinne, liebe Fans meines Blogs: Lebt lange und in Frieden!

1) Selbst kochen oder: die Kubatur der Kugel

Es ist Heiligabend und ich kümmere mich um das Abendessen. Es gibt, ganz traditionell, Kartoffelsalat und Wiener Würstchen. In dem von mir ausgewählten Kochbuch-Rezept für den Kartoffelsalat steht die Anweisung, man solle nach und nach die Brühe mit den Kartoffelscheiben vermischen. Mich quält eine Frage: Gebe ich nach und nach die Brühe zu den Scheiben oder die Scheiben zu der Brühe? Ich entscheide mich für Letzteres.

Meine Frau schält die gekochten Kartoffeln, ich schneide die Erdäpfel in Scheiben und verfahre wie oben beschrieben. Meine Frau beobachtet mich und wirft nach den ersten paar Knollen einen skeptischen Blick auf die Salatschüssel: „Sieht mehr nach Suppe aus.“ Ich erkläre ihr mein Dilemma: „Es war im Rezept nicht eindeutig, was man zu was gibt.“ Sie: „Gibt man nicht immer die Brühe zu den Kartoffeln?“ Ich: „Also, im Rezept steht, man solle nach und nach die Brühe mit den Kartoffelscheiben vermischen.“ Sie: „Aber heißt das nicht genau, dass die Brühe zu den Scheiben gegeben wird?“ Ich: „Findest Du? Für mich ist das nicht eindeutig. Können die nicht Rezepte schreiben, die auch Mathematiker verstehen?“

Ich weiß nicht, ob nur Mathematiker ihre Probleme mit so manchen zweideutigen, fragwürdigen oder gar nicht erfüllbaren Anweisungen in Kochrezepten haben, oder ob es anderen auch so geht. Damit meine ich nicht offensichtliche Fehler, wenn man etwa nach einer Stunde Arbeit als nächstes die Anweisung „fügen Sie jetzt einen Schuss Zitronensaft hinzu“ liest und denkt „was für ein Zitronensaft?“, weil in der Zutatenliste nicht von einer Zitrone die Rede war und man seinen Einkaufszettel natürlich genau nach dieser Liste erstellte.

Ich meine Anweisungen wie „schneiden Sie die Zwiebel in kleine Würfel“. Wir sollen also eine näherungsweise kugelförmige Zwiebel in kleine Würfel schneiden. Wie soll das gehen? Vermutlich auch noch ohne Infinitesimalrechnung? Verlangt man hier nicht von uns eine Kubatur der Kugel, also quasi die nächst-höherdimensionale Version der Quadratur des Kreises? Letzteres ist die Aufgabe, in endlich vielen Schritten aus einem gegebenen Kreis nur mit Zirkel und Lineal ein Quadrat zu konstruieren, das den gleichen Flächeninhalt wie der Kreis besitzt. Bekanntermaßen ist das mathematisch unmöglich aus einem einfach zu erklärenden Grund: Mit Zirkel und Lineal können wir letztendlich nur Strecken in zwei Teile teilen. Jedoch geht das aber nur so, dass die beiden Längen in einem Verhältnis zueinander stehen, das sich als Bruch aus zwei natürlichen Zahlen schreiben lässt. Wir können also nur rationale Zahlen produzieren. Die bei der Kreisfläche auftauchende irrationale Zahl Pi macht das Unterfangen der Quadratur des Kreises somit unmöglich.

Zurück zu den Zwiebelwürfeln. Eine Kubatur der Kugel ist gleichermaßen unmöglich, da die Formel für das Kugelvolumen ebenfalls nicht ohne Pi auskommt. Einen Ausweg liefert die oben bereits erwähnte Infinitesimalrechnung. Wir könnten die Endlichkeit der Anzahl der Schritte über Bord werfen und erlauben, dass wir z.B. auf folgendes zurückgreifen: Meine Frau hat ein total praktisches Gerät, mit dem man Gemüse in gleich große – Sie ahnen es schon – „Würfel“ schneiden kann. Das Wunderwerk der Küchentechnik besitzt viele kleine Klingen, die in gleichem Abstand zueinander zu einem zweidimensionalen Gitter angeordnet sind. Die Gemüse-Guillotine produziert viele kleine Stücke aus Gurken, Karotten oder auch Zwiebeln. Das Problem sind aber die Randstücke. Sie sind keine Würfel – mal ganz abgesehen davon, dass der Schnitt nur in zwei Dimensionen geschieht. Das können wir aber durch Drehen des Gemüses nach dem Schnitt und erneutes Schneiden lösen.

Was machen wir mit den Randstücken? Das praktische Gerät meiner Frau hat verschiedene Einsätze mit unterschiedlichen Abständen der Klingen. Wir können also ein feineres Gitter an Klingen nehmen. Das würde einen Teil der Randstücke retten. Von ihnen würden noch ein paar „korrekte“ Würfel abgeschnitten. Aber auch dabei bleiben Reste übrig. Doch wenn wir die Reste auf die Waage legen würden, wäre weniger als zuvor an Masse der nicht-würfelförmigen Teilstücke übrig. Was könnten wir tun? Wir nehmen ein noch feineres Gitter an Klingen und schneiden damit aus dem Rest noch mehr sehr kleine Würfel heraus. Aber es bleiben trotzdem noch Reste übrig, auch wenn deren Gesamtmasse (und somit auch Gesamtvolumen) noch mal geschrumpft ist.

Das Problem ist die Endlichkeit der Anzahl der Einsätze in dem praktischen Schneidegerät. Es gibt ein Gitter mit kleinstem, aber dennoch positivem Abstand der Klingen, so dass von unserer als kugelförmig angenommenen Zwiebel immer einige nicht-würfelförmige Abschnitte übrig sein werden. Setzt man das Volumen der perfekten Würfel zusammen – und das Volumen eines Würfels (Kantenlänge hoch drei) ist vergleichsweise einfach auszurechnen – so spricht man in der Mathematik von einer inneren Würfelsumme, weil nur die Würfel genommen werden, die ganz im Inneren der Zwiebel, pardon Kugel, liegen.

Der Ausweg ist nur über die Unendlichkeit zu finden. Wir müssen sukzessive das Klingengitter immer weiter verfeinern, z.B. von Schritt zu Schritt jeweils zwischen benachbarte Klingen genau in die Mitte eine neue Klinge platzieren. So halbieren wir die Abstände der Klingen. Machen wir das unendlich oft, so strebt der Abstand gegen Null und keines der Schnittstücke kann sich mehr vor der Würfelform drücken. Der Haken: Wir haben dann unendlich viele unendlich kleine Würfel. Aber mit etwas fortgeschrittener Mathematik kann man sich eine Formel herleiten, die besagt, wie viele perfekte Würfel wir nach jedem Verfeinerungsschnitt des Klingengitters erhalten und, wie gesagt, das Volumen jedes einzelnen Würfels ist schon fast banal zu berechnen. Die Bestimmung des Grenzübergangs ist dann auch nicht mehr so schwierig. Und man stellt schließlich fest, dass das Kugelvolumen wie folgt berechnet werden kann: Man fängt mit der dritten Potenz des Radius an (also „Radius hoch drei“) und multipliziert das Ergebnis mit 4/3 und (natürlich) mit Pi.

Wo waren wir eigentlich stehen geblieben? Ach ja, die Kochrezepte. Als erfahrener Hobbykoch weiß ich natürlich, dass Kochbuchautoren gar nicht „Würfel“ meinen, wenn sie „Würfel“ schreiben. Aber, warum, liebe Fernsehköche und anderen Köche, kann man nicht gleich „diffeomorphes Bild eines Würfels“ schreiben? Dann kann man das Rezept auch verstehen. Echt, ist doch nun wirklich nicht schwierig.

Übrigens, der Kartoffelsalat hat bei meiner Familie, mich eingeschlossen, nur mäßige Begeisterung hervorgerufen. Ob es an der Art des Mischens der Brühe und der Kartoffelscheiben lag, ließe sich zwar durch ein entsprechendes Experiment mit variierter Herstellung herausfinden. Ich würde es aber auch so schon ausschließen. Den besten Kartoffelsalat hat sowieso meine Oma hergestellt. Aber leider hat sie, wie es bei ihrer Generation weit verbreitet war, ihre Rezepte im Kopf gehabt und nie aufgeschrieben. Ich hätte sie danach fragen sollen solange ich es noch konnte. So experimentiere ich in der Küche, bis mein Kartoffelsalat irgendwann so schmeckt wie früher, auch wenn ich befürchte, dass sich dieses Vorhaben als Quadratur des Kreises herausstellen wird.

© Volker Michel. Alle Rechte vorbehalten. 

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